Christian Lippuner

Zwischen Ursprung und Urbanität

Laudator: Oliver Orest Tschirky

Auf den ersten Blick eröffnen sich in den grossformatigen Gemälden von Christian Lippuner Panoramen mit Stadtansichten. Die verschachtelten und übereinander gelagerten Häusermeere aus Linien und Flächen sind mit ihren rhythmisierten Strukturen verspielt, farbenfroh, lichtern und einladend. Doch bei längerer Betrachtung manifestieren sich in den urbanen Häusergefügen auch konträre Aspekte: Die Bebauung nimmt den gesamten Bildraum in Anspruch und breitet sich haltlos aus, die städtischen Landschaften wirken mit ihren zahllosen Gebäuden fast überladen, die Farben sind teilweise düster und in ihrer Fülle haben die Bauten sogar etwas Anonymes und mitunter Abweisendes. Abgesehen von vereinzelt angedeuteten Bäumen ist die Natur abwesend.

Diese spannenden Ambivalenzen sind kein Zufall, sondern vom Künstler bewusst eingebracht und eingesetzt, was ausserdem ein wichtiges Qualitätsmerkmal der Bilder ist. Denn gute Kunst regt an, ist vielschichtig und kann nicht zu Ende gedacht werden. Die konzeptuellen Aspekte seiner Malerei sind Christian Lippuner auch sehr wichtig. So setzt er seine Gedanken nicht bildlich und plakativ um, sondern sie fliessen nur indirekt in den Schaffensprozess ein. Dadurch sind für den aufmerksamen Betrachter Tiefgründigkeit und Bedeutung der Bilder wahrnehmbar, respektive können erahnt werden, auch ohne die hinweisstiftenden Titel zu kennen.

Thematisch äussert Christian Lippuner durch seine faszinierenden und ausdrucksstarken Bilder Bedenken vor absoluten und doktrinären Tendenzen, ketzerischer Hetzerei, unkontrollierter Zersiedlung und gesellschaftlicher Bequemlichkeit. Die ewige Gleichmacherei, Zerstörung von Menschlichem und Lebensfeindlichkeit stören ihn und deshalb ergreift er mit seiner Kunst einen Appell an das Zwischenmenschliche. Er möchte auf akute Missstände aufmerksam machen und die Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Lethargie aufrütteln. Gemäss seinen Idealen ist es nach Jahrzehnten des Neoliberalismus’ und Rechtspopulismus’ mit selbstzerstörerischem Egoismus, Hedonismus und Materialismus wieder an der Zeit für Solidarität, Rücksichtnahme, Partizipation, Integration, Toleranz und sozialer Gerechtigkeit.

Mit seinen Bildern hat Christian Lippuner eine eigenständige Bildsprache entwickelt, die sich zwischen figurativer Narration und erzählerischen Abstraktion bewegt. Hinzu kommt sein geübter Umgang mit Farben, was mitunter zu gewagten und mutigen Farbkombinationen führt. Doch auch seine ausdrucksstarken Bildkompositionen sind gekonnt. Obwohl das Malen von grossformatigen Arbeiten künstlerisch äusserst anspruchsvoll ist, sind sie handwerklich, formal und inhaltlich ausgereift. Kunstgeschichtlich handelt es sich bei seinen Gemälden um eine zeitgenössische Interpretation und Weiterentwicklung der mittelalterlichen Stadtansichten und Vedutenmalerei des 17. Jahrhunderts.
Weitere Referenzen sind unter anderem im Kubismus bei Robert Delaunays Stadtgefügen und Farbigkeit, im italienischen Futurismus mit Umberto Boccionis und Giacomo Ballas Dynamik, im sozialen Realismus, namentlich beim deutschen Expressionisten Otto Dix mit seiner Sozialkritik, im abstrakten Expressionismus, beispielsweise in der metaphysischen Farbfeldmalerei von Mark Rothko und den vibrierenden Drippings von Jackson Pollock, oder in der konstruktiven und konkreten Kunst mit den gesetzmässig konzipierten Wiederholungen zu finden. Vor allem aber erinnern die Werke von Christian Lippuner an die Strukturen, Linien und Farben von Paul Klee, der mit seiner Vielschichtigkeit und Tiefe für viele zeitgenössische Kunstschaffende sehr wichtig ist. Für Christian Lippuner sind hauptsächlich Paul Klees theoretische Auseinandersetzungen über Statik und Dynamik, Chaos und Ordnung sowie Formen und Farben prägend.

Zu den grossen Acrylgemälden stellen die überarbeiteten Holzschnittdrucke gleichzeitig Gegenstück und Ergänzung, sozusagen ein Hoffnungsblick, dar. Sie sind geprägt von Leichtigkeit, Fluss und Bewegung, Luft und Raum. Christian Lippuner dienen sie der Orientierung und symbolisieren für ihn den Ursprung fern von der Zivilisation, die reine Natur. Auf Passfahrten entstanden, gleichen sie Ausschnitten oder filmischen Sequenzen am Rand der hochalpinen Landschaft. Einerseits spielen die subtilen Arbeiten auf Papier mit ihren Fixpunkten und Aufblicken zum offenen Himmel mit dem Ursprünglichen und andererseits dem kontemplativen Nichts und der meditativen Leere. Da sie belebt sind, fix und flüchtig zugleich, wecken sie auch Assoziationen zu den hüpfenden und springenden Blicken während einer Zug- oder Autofahrt, bei der die Augen während eines kurzen Moments einem Gegenstand folgen und dann schnell zum nächsten Objekt wechseln. – Bei Christian Lippuners Bildern wünscht man sich, es möge ewig so weitergehen.