Christian Lippuner

Eröffnungsrede zur Ausstellung "Spuren" in der Wyschür Winterthur, 2. Juni 2007

Sehr geehrte VernissagebesucherInnen

Es freut mich, die Ausstellung "Spuren" in der Wyschür mit ein paar Worten eröffnen zu dürfen. Bevor ich auf die Werke von Christian Lippuner, Thomas Mack und Beatrice Vogler zu sprechen komme, möchte ich kurz das Wort "Spuren" genauer unter die Lupe nehmen.

Gedanken zu "Spuren"

Wenden wir uns zunächst dem Singular von "Spuren" zu, der "Spur". Was bedeutet eigentlich dieser Begriff? Was ist eine Spur? Und wohin führt sie uns?

Als eine "Spur" bezeichnen wir zunächst einmal einen Abdruck auf einer Oberfläche. Im Neuschnee, im Sand und in der weichen Erde lassen sich Spuren besonders gut verfolgen. Die Jäger nehmen die Fährten wilder Tiere auf, um sie zu jagen. Die Polizei sucht bei der Fahndung eines Verbrechens nach Fuss- und Fingerabdrücken. Und die Archäologen schürfen bei Ausgrabungen nach Spuren vergangener Kulturen.

Spuren sind Hinterlassenschaften. Sie zeugen von vorgängiger Anwesenheit. Es sind sichtbare Veränderungen an einer Oberfläche – verbliebene Zeichen, die nach Deutung rufen.

Spuren enthalten allerdings nur eine geringe Menge von dem, was inzwischen verschwunden ist. Deshalb ist es oft nicht einfach, eine Spur aufzugreifen. Man muss schon eine gute Spürnase besitzen, um eine Spur zu orten.

Vom Wort "Spuren" zu "spüren" ist es nur ein kleiner Schritt. Um etwas kaum Merkbares wahrnehmen zu können, braucht es einen ausgeprägten Spürsinn, eine feine Nase, scharfe Augen und manchmal auch einen sechsten Sinn. (Die Spur gehört zum feinstofflichen Bereich).

Die "Spur" hat noch eine weitere Bedeutung, als Fahrrinne. Die Spur zu wechseln bedeutet, einen anderen Weg einzuschlagen. Wie der Weg so ist auch die Spur ein lineares Gebilde. Man kann eine Spur nachzeichnen, man kann sie aber auch verwischen.

Auch das Leben hinterlässt Spuren: auf unserer Haut und in unserer Seele, in Form von Falten, Narben und Erinnerungen. Spuren deuten eine Geschichte nur an; vieles bleibt im Ungewissen. So enthalten Spuren immer auch ein Geheimnis. Diesem Geheimnis kommt man nur dank einem guten Gespür auf die Spur.

In den zweidimensionalen Werken von Christian Lippuner und Thomas Mack finden wir Spuren in Form von farbigen Linien und Ätzungen; bei Beatrice Vogler sind die Skulpturen als Verkörperungen von Schwingungen zu lesen. Alle drei Kunstschaffenden führen uns zu unsichtbaren Wahrheiten, die unser Leben prägen: Zeit, Bewegung, Energiefelder und Schwingungen.

Christian Lippuner

Christian Lippuner legt in seinen grossformatigen Werken ein dichtes Liniengefüge an. Schicht für Schicht zeichnet er mit farbigen Ölkreiden auf die grundierte Leinwand. Mit jedem Durchgang verdichten sich die Linien zu einem komplexen, kleinteiligen Kosmos; zu einem Netzwerk, im dem die Energieströme unaufhaltsam zirkulieren. Die in schwungvollen Schlaufen verlaufenden Linien verleihen dem Bild einen pulsierenden Rhythmus, der unaufhörliche Betriebsamkeit und lebendige Verspieltheit suggeriert.

In den Bildern "vernetzte wegspuren", "urbi et orbi" und "urbanes verdichten" verliert sich der Blick des Betrachters in einem labyrinthischen Gestrick von Linien wie im Gassenwirrwarr einer organisch gewachsenen, aus allen Nähten platzenden Megacity. Zum einen erinnern seine Werke an horizontlose Stadtprospekte, zum anderen an unleserliche Stadtpläne. Die Verbindung von An- und Aufsicht ist allerdings nur eine scheinbare, denn Lippuner bildet nicht ab. Er schafft viel mehr Werke, mit denen er das Wesen des modernen Lebens mit einer adäquaten Formen- bzw. Zeichensprache zum Ausdruck bringt. Der moderne Mensch lebt urban, verdichtet, vernetzt und ist stets in Bewegung.

Die überwuchernden, drunter und drüber und ineinander verlaufenden Linien dieses bunten Fadenknäuels machen uns bewusst, dass in den Städten alles mehr oder weniger in geordneten Bahnen verläuft. In einer gut funktionierenden Stadt ist alles im Fluss: Der Verkehr fliesst durch die Strassen, das Abwasser durch die Kanalisation, die Information durchs Netz. Die Dynamik birgt die Gefahr des Chaos. Je komplexer ein System, desto undurchschaubarer.

In Lippuners urbanem Mikrokosmos verlieren sich die Spuren. Die Linien – eigentlich konstruktives Element seiner Kompositionen – gehen in der vielschichtigen Textur auf. Sie verweisen darin indirekt auf den urbanen Menschen, der als Individuum zwar die kleinste soziale Einheit einer Stadt bildet, sich zugleich in ihrer Masse und Anonymität verliert.

In den Werken "der schrei" und "der grüne heinrich" taucht der Mensch nur noch schemenhaft auf, ohne Gesicht, ohne Individualität. Im Werk "tagesläufe" sind zwei sehr vage angedeutete Figuren dem dichten, urbanen Netz gegenübergestellt. Die Gitterstruktur, die für die rigide Organisation des Tagesablaufs wie auch für das gesellschaftliche System an und für sich steht, ist ambivalent. Sie verleiht Halt und engt zugleich ein. Die beiden an den Rand gedrängten Figuren scheinen sich bald aufzulösen.

Thomas Mack

Eine gleichmässig sich über die ganze Bildfläche ausbreitende Struktur finden wir auch in vielen Werken von Thomas Mack. Im Gegensatz zu Christian Lippuner bedient sich Thomas Mack der Drucktechnik. Bei seinen Radierungen auf handgeschöpftem Büttenpapier handelt es sich um eine technisch aufwändige Kombination von Prägedruck und Aquatinta.

Eine erste Werkgruppe bilden die vertikalen "Stäbe"; ihr Erscheinungsbild wird von stenogrammähnlichen Vertiefungen geprägt. Diese quasi-skripturalen Zeichen fügen sich aber nicht – wie bei der annähernd vergleichbaren Keilschrift – zu einem linear geordneten Schriftbild zusammen, sondern wirken wie zufällig gesetzt. Ebenso könnte es sich um Witterungsspuren handeln. Tatsächlich hat der Zahn der Zeit langsam, unter Mitwirkung von dünner Salpetersäure, am Papier genagt. Die Ätzung der Druckplatte kam in einem Zeitraum von mehreren Monaten zustande. Hilft bei der Entstehung der Druckplatte mitunter der Zufall mit, so erfolgen die übrigen Arbeitsschritte rein konzeptuell. Thomas Mack färbt jeweils die Druckplatte in verschiedenen Farben monochrom ein und stellt davon mehrere Abzüge her. Diese Module können nun nach Belieben kombiniert werden. Je nach Auswahl, Anzahl und Anordnung der Stäbe, ergeben sich variationsreiche Farbharmonien.

Eng verwandt mit den "Stäben" sind die sehr schmalen, horizontal ausgerichteten "Flussstäbe". Die Oberfläche lebt hier allerdings nicht von Vertiefungen, sondern von tropfen- und schlierenförmigen Ausbuchtungen. Diese Serie, die für eine Ausstellung zum Thema Amazonien entstanden ist, nimmt das Formenspiel von Wellen und Strudeln eines fliessenden Gewässers auf. Die unterschiedlichen Druckfarben – verschiedene Blautöne, Weiss und Gelb – rufen uns in Erinnerung, dass Wasser – je nach Lichteinfall und Wetter – ganz unterschiedliche Färbungen annehmen kann.

Neben den organisch anmutenden Oberflächentexturen finden wir bei Thomas Mack auch kalligraphische Elemente. Bei den blauen See-Bildern (mit zwei "e"), die als Hommage an die nordische Landschaft geschaffen worden sind, überlagern sich handschriftliche Formen mit solchen, die in der Natur zu finden sind. So zeigen die rhythmisch gesetzten Ligaturen Verästelungen, die an Flechten, aber auch an zusammenfliessende Bäche denken lassen.

Beim "Roten Tor" hingegen sind die kalligraphischen Linien wie eine Inschrift in ein geometrisches Konstrukt eingefügt. Die Schnörkelschrift verkörpert hier – im Gegensatz zu den geometrischen Flächen – das Gestische und somit die menschliche Spur.

Beatrice Vogler

Beatrice Vogler verwendet für ihre Skulpturen meistens Jura-Kalkstein. Je nach Gesteinsschicht enthält der Block Quarz- und Muscheleinschlüsse. Jede Skulptur, sei sie aus Kalkstein, Sandstein oder Kristallina-Marmor gewonnen, weist zudem eine naturgegebene Färbung auf, die – je nach Oberflächenbehandlung – mehr oder weniger zum Vorschein kommt. Wenn Beatrice Vogler die mit dem Spitzeisen bearbeiteten Flächen schleift, poliert und sogar einölt, wirken diese fast hautähnlich und beginnen optisch zu atmen.

Beatrice Voglers Skulpturen besitzen weiche, runde Formen. Obschon abstrakt, ist die Formensprache sehr weiblich. Das lebendige Prinzip des organischen Wachsens und sich Entfaltens zieht sich wie ein roter Faden durch das bildhauerische Schaffen von Beatrice Vogler.

In "Dreidrei" und "Dreistimmig" erkennt man das Zusammenspiel von drei ähnlichen Formen. Die Dreiheit von Körper, Seele und Geist wird als Einheit, als ein Ganzes, aufgefasst. Dreiteiligkeit finden wir auch bei der Stele "In Kommunikation", wo ein Mäander als Schnittstelle zwischen oben und unten vermittelt. Und bei der Skulptur "Im Licht", schützen zwei flügelähnliche Auskragungen eine kleine zentrale Öffnung, durch die Licht fällt. "Bei sich" ist hingegen eine sehr kompakte, zentrierte Stele, bei der die Mitte wie ein Rückgrat ausgeformt ist. Die strengste, sehr archaisch formulierte Stele ist die "Inspirata". Auf ihr sind runenähnliche Zeichen eingeschrieben – "Inspirata" bezieht sich auf die Künstlerin, auf den Stein (la pietra) und auf die Kunst selbst (l'arte).

Bei Beatrice Voglers Skulpturen hat man den Eindruck, als ob Energie durch sie fliessen würde. Die Künstlerin selbst bezeichnet ihre Skulpturen als kristallisierte Musik: So verkörpern die beiden Skulpturen "Lied" und der "Liederbaum" Klänge bzw. eine Melodie.

Die gedankliche Verbindung von Stein und Schwingung ist durchaus logisch, denn von den Quarzuhren her wissen wir, dass Steine eine eigene Schwingung besitzen, wenn auch für unsere Sinne nicht wahrnehmbar. Beatrice Vogler spürt in den Steinblöcken diesen Schwingungen nach und legt sie frei. Im Grunde macht sie Lebenskraft, wie sie in Liedern zum Ausdruck kommt, sichtbar. Auch die "Schale der Fülle" ist ein Symbol für Gedeihen und Lebensfreude.

Und so wollen wir heute Abend aus dem Vollen schöpfen und dem Wesentlichen auf die Spur kommen – mit Kunst und kulinarischen Köstlichkeiten.

© Lucia A. Cavegn, Winterthur